Schein und Wahrnehmung. Zu oft glauben wir in Verhandlungen, bereits alle notwendigen Informationen für unsere Entscheidungen vorliegen zu haben. In vielen Verhandlungen entstehen kommunikative Irritationen und Konflikte durch eine zu frühe Interpretation der Informationen. Zu oft werden Wahrnehmung und Interpretation vermischt. Kurz: “Alles beruht auf der Meinung!“ (Marc Aurel)
Ihre Erfahrungen behindern Ihre Wahrnehmung
“Ich kennen doch meinen Kunden“, ist eine oft gehörte Aussage von Vertriebsmitarbeitern. Nun ja. Für mich ist der Kunden bereits dann wieder ein fremder, wenn ich die Verhandlungen oder den Termin beende. Zu viel passiert zwischen jetzt und dem nächsten Kontakt. Und damit muss ich mir den Kunden von Neuem anschauen. Und selbst im eigentlichen Termin kann diese Denkweise unserem Verhandlungserfolg gefährlich werden. Sie weisen einzelnen Informationen Iher Wahrnehmung einem Ihnen schon bekannten Muster zu und vollenden so vorzeitig den Kommunikationsprozess. Für Sie ist ja klar, was der Kunde möchte, wenn er so anfängt. Sie ergehen sich in Interpretationen. Derartige vorzeitige Interpretationen äußern sich auf der verbalen Ebene häufig im Unterbrechen des Verhandlungspartners. Nonverbale Indikatoren sind zum Beispiel Reaktionen mit den Händen oder Veränderungen in der Position des Oberkörpers. Diese Verhaltensweisen sind wenig wertschätzend und können Störungen in der Verhandlung erzeugen. Neben diesen Störungen sind Ihre Interpretationen oft weit entfernt von der eigentlichen Wahrnehmung, was wirklich passiert ist. Sie lenken Ihr Denken in eine falsche Richtung.
Ihr Gehirn liebt Schubladen – Wie unfair und zugleich fatal in Verhandlungen
Sie interpretieren, anstatt tatsächlich wahrzunehmen. Und wenn Sie glauben, dies wäre bei Ihnen anders, prüfen Sie einmal nach, wie oft Sie wirklich anhand konkret wahrgenommener Informationen entscheiden. Stattdessen öffnen Sie gerne Schubladen, stecken die Menschen oder deren Erläuterungen hinein und bilden sich ein entsprechendes Urteil. Und weil dieses Urteil oftmals so angenehm ist, verschließen Sie sogar im weiteren Gesprächsverlauf Augen und Ohren vor weiteren Informationen. Denn aus Ihrer Sicht „wissen“ Sie ja, wie er ist oder was an weiteren Ausführungen folgen wird. Damit vergeben Sie die Chance, den anderen wirklich zu verstehen. Im schlimmsten Fall nehmen Sie genau in diesem Moment die Information, die für Ihren Verhandlungserfolg hilfreich gewesen wäre, nicht auf. Ihr Verhalten recht sich in fataler Weise. Vielleicht gab es in Ihrer Vergangenheit einmal ein Seminar über Körpersprache. In solchen Seminaren wird heute immer noch gerne die Haltung der verschränkten Arme vor der Brust als Zeichen für Ablehnung benannt. Verlassen Sie sofort das Seminar. Hier sind Sie falsch. Sie bekommen eine „kaputte“ Schublade antrainiert. Diese Interpretation einer Haltung ist unvollständig und führt zu Interpretationen, basierend auf Halbwissen und unvollständiger Informationsbasis. Wenn Sie aber den ganzen Körper wahrnehmen, gibt es diverse andere Gründe, warum jemand so die Arme verschränkt. Also erst alle Informationen sammeln und dann damit arbeiten. Oder würden Sie einem Arzt trauen, der Ihnen, nur weil Sie mit gerötetem Kopf in sein Behandlungszimmer kommen, ein Fiebermedikament verschreibt? Sicher nicht.
Ihre Wahrnehmungsqualität als Informationsschatz – Sie müssen den Schatz nur finden
Gesprächspartner bieten Ihnen eine Fülle von verbalen, nonverbalen und paraverbalen Informationen. Abhängig davon, welche Psychologen Sie befragen, erhalten Sie Aussagen, dass im kommunikativen Prozess der nonverbale Anteil bei ca. 70 bis 80 % liegt. Dieser Prozentsatz sollte ausreichende Motivation sein, dem Körper Ihres Gesprächspartners und den verschiedenen körperlichen Reaktionen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Hilfreich sind dabei die Elemente, die Sie sinnesspezifisch wahrnehmen können:
- Atmung, Atemvolumen, Atemfrequenz
- Gesichtsfarbe
- Lippengröße, Lippenfarbe und Lippenpressen
- Augenbewegungen, Pupillengröße, Lidreflex
- Hautfeuchtigkeit, Muskelspannung
- Haltung, Haltungsveränderungen
- Unbewusste Bewegungen und Gesten
- Körperbewegungen
- Sprechtempo, Stimmlage, Lautstärke, Timbre, Pausen, Sprechrhythmus, Sprachmelodie – Hauttemperatur
- Druck (Händedruck, Druck/Kraft in der Stimme)
- Gerüche wie Alkohol, Schweiß, Parfüm
Vom Hellseher zum Hinseher – Wahrnehmungsqualität zeichnet Verhandlungsprofis aus
In der Praxis spielt Ihnen Ihre Erfahrung einen Streich. Stellen Sie sich eine Person vor. Sie sehen ein Bild von ihr mit hochgezogenen Augenbrauen, zusammen gekniffenen Augen, einer leicht hängenden Nase-Mund-Partie und mit einem nur leicht geöffneten Mund. Das ist Ihre Wahrnehmung. Ist es eine Person, die zweifelnd schaut? Oder eine Person, die sich unwohl fühlt? Oder eine Person, die die Augen zusammenkneift, weil sie von dem Licht, welches von dem vor ihr stehenden Tisch reflektiert wird, geblendet wird? Vorsicht. Das sind die verschiedenen Interpretationen, die bei Ihnen aufgrund Ihrer eigenen Erfahrung entstehen. Der entscheidende Unterschied für Sie besteht zwischen „wissen“ und „glauben zu wissen“. Letzteres können Sie mit Hellsehen gleichsetzen. Wann immer Sie denken zu wissen, was andere Menschen denken, meinen, fühlen oder wollen, ist dies für Sie gefährlich. Wenn Sie sich selbst dabei ertappen, nehmen Sie sich sofort zurück und überlegen Sie, was Sie wirklich wahrgenommen haben und was Ihr Kopfkino beigesteuert hat. Viele Teilnehmer sagen in Workshops, dass das so schwer ist. Genau. Aber das macht einen guten Beobachter und Verhandler aus. Viellicht ist es für Sie beruhigend, dass auch Sie die meisten Dinge „sehen“ können, wenn Sie wissen, worauf Sie achten müssen. Werden Sie vom Hellseher zum Hinseher.
Steigern Sie die Wahrnehmungsqualität – Bieten Sie Ihrem Gehirn viele, neue Schubladen
Ich habe einen äußerst angenehmen Kunden, den ich in letzter Zeit verstärkt zu Verhandlungen begleite. Dieser Kunde zeichnet sich in den Gesprächen durch eine besonders wertschätzende Kommunikation aus. Er erfuhr in der letzten Verhandlung eine Missachtung, weil der Verhandlungspartner ihn von Beginn an als ablehnend titulierte. Ich war über diese Aussage erstaunt und wertete sie als Vorwurf gegenüber dem Kunden. Der Kunde seinerseits hinterfragte beim Verhandlungspartner, wie er zu dieser Sichtweise gelangt ist. Der Verhandlungspartner begründete seine Aussage damit, dass der Kunde bereits zu Beginn des Gespräches mit verschränkten Armen am Tisch gesessen hat. Der Kunde quittierte diese Begründung mit einem sehr freundlichen und herzhaften Lachen. Er verwies auf seinen Bauch. Bedingt durch ein leichtes Übergewicht hat er es sich zur Angewohnheit gemacht, seine Arme vor dem Bauch zu verschränken und auf dem Bauch abzulegen. Einfach, weil es so angenehm bequem für ihn ist. Was für den Kunden bequem ist, interpretierte der Verhandlungspartner fälschlicherweise als Ablehnung. Die Schublade lautete: verschränkte Arme gleich Ablehnung. Zumindest nach diesem Gespräch hat der Verhandlungspartner eine neue Schublade für sich entdeckt. Diese lautet: Es gibt Menschen, die mit verschränkten Armen sitzen, und die nicht ablehnend sind. Je mehr Schubladen Sie zu einem Verhalten besitzen, desto schwieriger ist es für Sie, spontan eine Interpretation zu benutzen. Bei so vielen Schubladen wissen Sie einfach nicht mehr, welche Sie nehmen sollen. Ihr Ziel sollte daher sein, durch häufiges Reflektieren zu derselben ursprünglichen Ausgangsinformation möglichst viele Schubladen zu haben. Bei vielen Schubladen dauert die Auswahl einfach zu lange. Am Ende verzichten Sie daher in den meisten Situationen auf Ihr Schubladendenken.
Mit mehr Zeit und weniger Stress zu besserer Wahrnehmungsqualität in Verhandlungen
Mit diesen Gedanken können Sie Ihre Muster nicht vollständig auflösen, denn diese sind evolutionstechnisch durchaus wichtig und hartnäckig. Sie sind ein Schutzmechanismus. Wann immer Gefahr drohen könnte und es schnell gehen muss, sind diese Muster Lebensretter gewesen. Eine Schlange klappert mit dem Ende des Schwanzes? Unsere Muster sagen: „Nicht anfassen, Gefahr.“ In der Kommunikation gibt es aber keine oder nur wenige Schlangen. Hier haben Sie Zeit, sich zurückzunehmen, Ihre Muster auszublenden und im Nachgang zu einem Gespräch Ihre Muster zu überprüfen. Neben möglichst vielen Schubladen ist Zeit für Sie ein wichtiger Aspekt in der Abgrenzung von Wahrnehmung zu Interpretation. Vorsicht wenn Sie über etwas nachdenken und dabei einen Gedankengang haben, der mit „ich glaube, …“ beginnt. Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, sich zurückzunehmen. Auch höre ich sehr oft Aussagen wie: „Ich weiß ja nicht, ob das für Sie interessant ist, aber …“. Sie beginnen, Ihr weiteres Gespräch oder Ihre weitere Verhandlung mit einer Interpretation fortzusetzen. Gerade unter Stress greifen Sie auf Schubladen zurück. Sorgen Sie dafür, in Verhandlungen Ihren negativen Stress so gering wie möglich zu halten.
Fragen beeinflussen Ihre Wahrnehmungsqualität positiv
Ihr Gespräch basiert auf Ihrer Vorstellung, was wichtig ist oder was gerade angebracht ist. Denken Sie daran: „Ihre Landkarte ist nicht die Welt“. Es gibt viele Sichtweisen auf ein und dasselbe Thema. Stattdessen ist es angebrachter, den von Ihnen interpretierten Sachverhalt konkret beim Verhandlungspartner nachzufragen. Erkunden Sie die „Landkarte“ Ihres Gesprächspartners. Gerade Körpersprache bietet sowohl Interpretationsspielraum. Ihr Verhandlungspartner beginnt, bei einem Ihrer Statements auf dem Stuhl hin und her zu wackeln. Daraufhin könnten Sie dieses Verhalten nun anhand Ihrer Schubladen interpretieren. Oder Sie fragen ihn ganz unauffällig was er bis dahin über Ihre Ausführungen denkt. Letzteres bietet ihm die Möglichkeit, sich zu öffnen. Zugleich bietet es Ihnen die Möglichkeit, in einen konstruktiven Dialog einzusteigen. Wichtig für Sie: Sie befinden sich in einer unklaren Situation und der einzige Weg zur Klärung geht über öffnende Fragen. Und natürlich erwähnen Sie mit keinem Wort, dass Sie sein Wackeln bemerkt haben. Diesen Vorteil behalten Sie für sich. Die Person soll ja nicht merken, dass sie lesbar ist.
Wahrnehmungsqualität muss einhergehen mit Wahrnehmungsquantität
Ihre Abgrenzung der Wahrnehmung von der Interpretation kennzeichnet Ihre Wahrnehmungsqualität. Wo Qualität ist, gibt es meist auch das Thema Quantität. Das gilt auch in diesem Fall. So, wie Sie die Qualität Ihrer Wahrnehmung optimieren können, so können Sie in Verhandlungen die Quantität der Wahrnehmung verbessern. Beides ist zu Ihrem Vorteil. Gerade dieser quantitative Ansatz erfährt leider eine stiefmütterliche Behandlung. Die Möglichkeiten bleiben in Verhandlungen viel zu sehr ungenutzt. Dabei ist es ganz einfach. Es geht nur um Ihre fünf Sinne. Mehr dazu hier.